Ein Artikel von Lena Heising und Juliane Hermes, geschrieben im September 2019
Seit vier Jahren können Ukrainer die Schützengräben zwischen dem Separatistengebiet und der restlichen Ukraine an Kontrollstellen überqueren. Die heute 23-Jährige Lyudmila floh bereits ein Jahr vorher aus Donetsk nach Kharkiv, einer ukrainischen Großstadt 200 Kilometer von der Front entfernt. Ihr Zuhause wurde zum Krisengebiet.
Es regnet am Übergangspunkt Majorsk. Ein gelber Bus fährt aus der Grauen Zone in Richtung der Kontrollstelle. Zwei Dutzend Menschen steigen aus und rennen zu den überdachten Kontrollpunkten. An der Straßenseite, wenige Meter von dem Halteplatz des Busses entfernt, stehen mehrere Soldaten mit Maschinengewehren. An der Übergangsstelle bei Majorsk überqueren täglich zehntausend Menschen die Kontaktlinie zwischen dem Separatistengebiet und der restlichen, von der Regierung in Kiew kontrollierten Ukraine.
Majorsk ist der größte der sechs Übergangspunkte, an denen Zivilisten die Schützengräben überqueren können – sei es, um ihre Rente zu bekommen, Geburtsurkunden oder Sterbeurkunden zu beantragen. Selbst das ukrainische Bankensystem brach im Separatistengebiet zusammen. Als „Graue Zone“ bezeichnet man den kleinen Landstrich zwischen dem ukrainisch kontrollierten Territorium und dem Separatistengebiet. Es ist Niemandsland, Gebiete, die von keiner Seite kontrolliert werden. „Unsere Hauptaufgabe hier in Majorsk ist es hier, die Sicherheit der Zivilisten und den schnellen Übergang zu gewährleisten“, sagt ein Pressesprecher des ukrainischen Militärs. Jede Person, die den Übergang passiert, wird kontrolliert und über die Interpol-Datenbank geprüft. Immer wieder beschlagnahmt das Militär Sprengstoff, Waffen und Drogen.
Durch das Niemandsland
Die Übergangsstelle erinnert an die früheren Grenzkontrollen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR: Die Straßen enden in einem weißen Komplex, mit Stellplätzen für die Kontrollen
der Autos und Containern, in denen die Personenkontrolle durchgeführt wird. Die Ukrainer können den Übergang im Winter nur zwischen 8 und 17 Uhr passieren, im Sommer zwischen 6 und 20 Uhr. Ein
Bus bringt sie von dem ukrainischen Kontrollpunkt aus bis zur Höhe der ukrainischen Schützengräben. Danach müssen sie bis zum Kontrollpunkt der Separatisten laufen. Einen Kilometer lang ist die
Graue Zone hier, an anderen Stellen ist sie deutlich größer. Wer nicht rechtzeitig vor der Schließung der Kontrollpunkte die andere Seite erreicht, muss dort übernachten.
Erst seit dem Minsker Abkommen 2015 haben Bewohner die Möglichkeit, über einen gesicherten Kontrollpunkt die Schützengräben zu passieren. Der Konflikt ist seitdem zu einer Art Stellungskrieg geworden, doch ganz eingefroren ist er nicht. Der Waffenstillstand wird regelmäßig verletzt – auch in Majorsk fielen wenige Wochen, bevor diese Fotos entstanden, wieder Schüsse.
Flucht aus Donetsk: Lyudmilas Zuhause wurde zum Krisengebiet
Vor dem Minsker Abkommen war es für Ukrainer deutlich schwerer, die Grenze zwischen Separatistengebiet und ukrainisch kontrolliertem Territorium zu passieren. Die 23-Jährige Lyudmila lebte in Donetsk als im Dezember 2013 die Proteste ausbrachen. Hunderttausende Ukrainer demonstrierten auf dem Maidan in Kiew für eine EU-nähere Politik in der Ukraine und stürzten schließlich die damalige Regierung. Nach der völkerrechtswidrigen Annektion der Krim durch Russland brachen auch im Donbass, einer Region im Osten der Ukraine, heftige Gefechte aus: Pro-russische Rebellen bekämpften sich mit der ukrainischen Armee. Als im Juli 2014 auch die Großstadt Donetsk attackiert wurde, beschloss Lyudmila, mit ihrer Mutter und ihrem späteren Ehemann zu fliehen. „Es war schwierig, Donetsk zu verlassen“, erzählt Lyudmila. Zu dem Zeitpunkt fuhren kaum noch Busse aus der Stadt heraus, nur private Transporte gab es noch. Außerdem gab es in fast jeder Stadt, in jedem Dorf, militärische Kontrollpunkte. Bürger wurden ausschließlich auf russisches Territorium durchgelassen – in die Gebiete unter ukrainischer Kontrolle durfte man nicht.
Doch Lyudmilas Familie wagte die Flucht. Fast alle Habseligkeiten mussten sie zurücklassen, nur ihre Katze nahmen sie mit. Durch einen glücklichen Zufall, den sie aus Sicherheitsgründen nicht
weiter ausführen will, schafften sie es durch einen Kontrollpunkt und verließen Donetsk. Diejenigen, die ihr bei der Flucht halfen, kamen im Laufe des Krieges ums Leben. „Ich versuche immer noch
festzustellen, wer Schuld an dem Krieg ist“, sagt Lyudmila. „Aber welchen Unterschied macht das, wenn das Ergebnis sowieso dasselbe ist – tote Soldaten, Zivilisten und Söldner.“
Lyudmila ist eine Binnenflüchtige, auch Internally Displaced Persons (IDPs) genannt. Für ihre Flucht überquerte sie keine Staatsgrenze, sondern blieb im eigenen Land. Seit der Konflikt ausbrach
registrierte das Sozialministerium der Ukraine 1,4 Millionen Binnenflüchtlinge. Weitere 150 Tausend Ukrainer fanden in anderen Staaten Schutz. Weltweit ist die Ukraine damit auf Platz neun
der Länder mit den meisten Binnenflüchtlingen. Alleine in der Region Donetsk kamen knapp eine halbe Million Menschen unter.
Vorurteile Gegen Binnenflüchtlinge
Lyudmila lebt heute in Kharkiv, einer Stadt im Osten der Ukraine unter ukrainischer Kontrolle. Dort absolvierte sie ein Studium an der Karazin Universität. In der Großstadt erinnert nur ein Zelt vor dem Rathaus, in dem Freiwillige für die Front rekrutiert werden, an den bewaffneten Konflikt 200 Kilometer Richtung Osten. Sandsäcke, lange Banner von Fotos der Front und unschmeichelhafte Karikaturen Putins flankieren das Zelt. Andere Überbleibsel aus der Sowjetunion und einer Russland-nahen Ukraine verschwinden: Die Lenin-Statue auf dem Platz vor dem Stadthaus wurde kurz nach der Revolution gestürzt. Neben ukrainischen Fahnen flattert heute häufig die der Europäischen Union – und dass, obwohl die Ukraine noch nicht einmal Mitgliedstaat ist. Hier in Kharkiv verlief die Revolution nicht gewaltfrei, aber ohne Todesopfer.
Doch ganz einfach ist es auch entfernt von der Front nicht für Lyudmila. Vertriebene wie sie müssen gegen Vorurteile ankämpfen. “Das Problem war, dass uns einfach keiner aufnehmen wollte, als sie hörten, dass wir aus Donbass, aus einem unkontrollierten Gebiet kommen. Sie sind misstrauisch, weil sie befürchten, dass wir nicht rechtzeitig bezahlen oder etwas stehlen könnten”, erzählt Lyudmila. Bis heute habe sie keinen festen Wohnsitz und muss mit ihrer Familie alle sechs Monate weiterziehen.
Zu den Menschen, die heute noch in Donetsk leben hat Lyudmila keinen Kontakt mehr. „Wir haben das letzte Mal 2015 oder 2016 von denen gehört“, erzählt sie. Die meisten von ihnen seien in andere Regionen der Ukraine oder nach Russland gezogen. „Wir sind dort abgereist und nie zurückgekehrt“, sagt Lyudmila.
Keine Zukunft in Donetsk
Die Bewohner der Ostukraine fliehen nicht nur vor bewaffneten Kämpfen, sondern auch vor humanitären Problemen. Viele der Menschen haben nur sehr begrenzten Zugang zu Trinkwasser, erzählt ein Sprecher der Vereinten Nationen in Kramatorsk. Viele Wohnungen und Häuser wurden zerstört, auch die Infrastruktur vieler Städte ist beschädigt. Die Lieferung von zum Beispiel Kohle zum Heizen, gestaltet sich oft schwer und ist nur durch Hilfsorganisationen möglich.
Lyudmila kann sich nicht vorstellen, bald zurück nach Donetsk zu ziehen. „Ich könnte jederzeit zurückkehren, niemand verbietet es mir dorthin zu reisen. Aber wieso sollte ich? Dort ist alles tot.
Es gibt kein Studium, keine Arbeit, keine Zukunft.“ Selbst wenn sich beide Truppen zurückziehen würden, sagt sie, blieben die Bewohner mit vielen Waffen auf dem Territorium zurück. Doch trotz
allem bleibt die 23 jährige stark. „ Man muss verstehen, dass man weiterleben muss und nicht depressiv werden darf”, erzählt sie gefasst. Dabei helfen ihr vor allem Geschichten von
Menschen, die nicht aufgegeben haben - die ihr Leben aus einer schlimmen Situation wieder aufgebaut haben.
"Achtung, Minen"
Die Straße, die vom ukrainischen Übergangspunkt in Majorsk zu dem Kontrollpunkt der Separatisten führt, sieht eigentlich aus wie eine ganz normale Landstraße. Umrahmt ist die Straße von Bäumen und Wiesen, rechts sieht man eine Einfahrt, die zu einem grauen Hochhaus im Plattenbau-Stil führt. Ein Auto biegt in die Einfahrt zu dem Wohnhaus ein. Noch immer leben Menschen in dieser Grauen Zone, weder unter der Kontrolle der Ukraine noch der Separatisten und nur wenige Kilometer - wenn überhaupt - von den Schützengräben entfernt. Für die Bewohner der Grauen Zone, erzählt ein Sprecher der ukrainischen Armee, gäbe es ein vereinfachtes Verfahren, um durch die Kontrollpunkte zu kommen. Auch wenn einer der Bewohner einen Rettungswagen anfordere, hätte dieser bei dem Kontrollpunkt selbstverständlich Priorität.
Doch gerade die Tatsache, dass der Blick auf die Straße so normal und friedlich aussieht, ist gefährlich. An den Seiten der Straße stehen Schilder, auf denen auf ukrainisch steht: „Achtung,
Minen“. Die Wiesen und die Gräben sind vermint. So kommt ein Mensch nur durch die Kontrollpunkte, indem er auf den Straßen bleibt, über die Kontaktlinie. Für diejenigen, die an einem vollen Tag
aber in der Schlange stehen und kurz mal ins Gebüsch verschwinden, kann das tödlich enden. Erst vorgestern, so der Sprecher der ukrainischen Armee, sollen Soldaten einen älteren Mann aus dem
Minenfeld geholt haben. Pro Monat sterben circa zwei Zivilisten wegen dem Krieg, viele von ihnen treten auf Minen. Trotz Waffenstillstand kommt pro Woche im Durchschnitt ein Soldat um, mehrere
werden verletzt. Insgesamt gab es den Vereinten Nationen zufolge im Mai 2019 835 Sicherheitsvorfälle, also Verstöße gegen den Waffenstillstand. Insgesamt starben bisher 10.000 Menschen im
Ukraine-Konflikt.
Eine wirkliche Lösung für den Ukraine-Konflikt ist auch nach fünfeinhalb Jahren nicht in Sicht. Für einige Ukrainer ist die gefährliche Reise über die “Graue Zone” längst Alltag geworden.
*Anmerkung: Der Artikel wurde bereits im September 2019 geschrieben. Zahlen und Fakten sind daher teilweise nicht auf dem aktuellen Stand.
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